Weinen oder Schreien ist für ein Baby eine wichtige Möglichkeit sich zu äußern. So kann es seiner Umgebung mitteilen, dass es ihm nicht gut geht und Zuwendung benötigt. Wenn ein Baby also auffallend häufig und lange schreit, beginnen sich die Eltern langsam zu fragen, ob das noch normal ist, etwas nicht stimmt oder ob sie womöglich ein "Schreibaby" haben. Als Definition liest man häufig folgendes: Als Schreibaby gilt ein Säugling, der täglich mehr als drei Stunden an mindestens drei Tagen der Woche über mehr als drei Wochen aus unerklärlichen Gründen schreit und sich kaum beruhigen lässt. Diese Definition kann jedoch nur als grobe Faustregel angesehen werden und die Formulierung "aus unerklärlichen Gründen" sollte einmal einer näheren Betrachtung unterzogen werden.
Wenn ein Baby weint, hört man häufig den Satz "Es hat Hunger!" oder "Es will Trinken!" oder "Es hat eine volle Windel!" und in der Tat hilft es auch, zumindest zeitweise, das Kind anzulegen und dadurch zu beruhigen. Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, dass Babys nur aus Hunger oder wegen einer nassen Windel weinen, denn auch sie haben schon komplexere Gefühle und Bedürfnisse. Wenn man sein Kind gut kennt, kann man zudem die typischen Zeichen seines Babys deuten, wenn es gestillt werden möchte. Weinen aus Hunger sollte eigentlich nicht nötig sein, wenn man frühzeitig reagiert. Und doch weinen manche Babys einfach und lassen sich nicht beruhigen, auch wenn sie gerade getrunken haben, sie getragen werden und auch die Windel nicht das Problem sein kann. Das Weinen hat also andere Gründe und naheliegenderweise haben diese Babys offenbar etwas zu verarbeiten. Dies kann im einfachsten Fall ein aufregender Tag gewesen sein mit vielen neuen Eindrücken. Oft steckt jedoch etwas mehr dahinter.
Das Weinen ist ein wichtiges Ventil, um Kummer, Stress oder traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und sollte daher wahrgenommen und nicht einfach durch Ablenkung unterdrückt werden. Vielmehr gilt es, das Weinen des Babys liebevoll zu begleiten und den möglichen Ursachen auf den Grund zu gehen. Dies bedarf einer gründlichen Diagnostik und einer feinfühlige Therapie, die auf die Bedürfnisse des Säuglings sowie einer Unterstützung der Eltern ausgerichtet ist.
In der Klassischen Homöopathie wird zunächst eine ausführliche Anamnese erhoben, um mögliche Ursachen zu finden, auf die das passende homöopathische Arzneimittel ausgerichtet wird.
Häufig haben sich die Eltern schon viele Gedanken darüber gemacht und nicht selten schon eine Hypothese oder mögliche Erklärungen.
Eine besonders wichtige Rolle spielt in vielen Fällen eine anstrengende oder schwierige Geburt, bei der das Kind den damit verbundenen Stress nicht kompensieren konnte und so in einen Schockzustand hineingekommen ist, der nicht überwunden werden konnte. Es ist ein körperliches und vor allem auch ein seelisches Trauma entstanden. Um ein körperliches Trauma, z.B. ein KiSS-Syndrom(1) auszuschliessen bzw. zu behandeln, ist auch die Abklärung durch eine/n hierauf spezialisierten Therapeuten/in (Physiotherapeut/in, Chiropraktor/in oder Osteopath/in) unbedingt ratsam.
Charakteristisch für ein Trauma ist das Gefühl, einer Situation nicht gewachsen zu sein, so dass ein Gefühl der Lähmung entsteht, in der man sich starr vor Schreck und somit handlungsunfähig fühlt. Man ist also weder zu Angriff oder Flucht fähig, sondern lässt die Situation gelähmt über sich ergehen. Diese Art der Lähmung kann man während der Geburt beispielsweise daran erkennen, dass das Neugeborene (zunächst) nicht schreit, sondern auffällig ruhig ist. Eventuell ist den Eltern auch aufgefallen, dass das Kind mit ungewöhnlich offenen, also vor Schreck geweiteten, Augen zur Welt gekommen ist. Aber auch kurz nach der Geburt kann es zu traumatischen Trennungserlebnissen kommen, wenn es Mutter oder Kind nicht gut geht und so das Bedürfnis des Neugeborenen nach Haut-und Körperkontakt nicht erfüllt oder unterbrochen werden muss.
Auch der Einsatz von Medikamenten während der Geburt ist für das Ungeborene eine große Belastung und kann zu einem Zustand der Überempfindlichkeit und Überreizung führen.
Nicht selten findet man während der Anamnese auch noch weitere Verkettungen unglücklicher Umstände. Gab es vielleicht im Vorfeld schon Sorgen oder Kummer, die die Schwangerschaft überschattet haben? Gab es Probleme oder Komplikationen, beispielsweise Erkrankungen oder die Notwendigkeit einer Medikamenteneinnahme? Hatte die Mutter evtl. selber seelischen Stress erlebt? Ging dieser Schwangerschaft womöglich eine Fehlgeburt voraus oder hatten die Eltern Anlass zur Sorge um die Gesundheit des Ungeborenen, so dass die Schwangerschaft von Angst und Sorgen geprägt war? Gab es einen Kummer, einen Streit mit dem Partner oder Konflikte mit den eigenen Eltern oder im persönlichen Umfeld? All dies kann zu dem Zustand mit beigetragen haben. Anhand dieser zusammengetragenen Informationen kann versucht werden ein "homöopathisches Causamittel" , also ein auf den Auslöser ausgerichtetes homöopathisches Mittel, zu finden.
Eine weitere Möglichkeit sich einer passenden homöopathischen Arznei zu nähern, ist das genaue Beobachten von Besonderheiten und Eigenheiten im Verhalten oder in körperlichen Auffälligkeiten des Babys. Diese spiegeln die individuelle körperliche und seelische Verarbeitung seines Problems wider und können sehr wertvoll sein für die Arzneiwahl, da allein die Causa nicht immer eindeutig ermittelt werden kann.
Wenn man das genaue Verhalten eines Schreibabys beobachtet, kann es z.B. aufschlussreich sein, wann genau das Baby schreit. Ist es eher ein lautes wütendes dauerhaftes Schreien oder eher ein panisches Weinen, das auf und abschwellt? Weint es nur in bestimmten Situationen oder zu bestimmten Tageszeiten? Welche äußeren Faktoren beeinflussen das Weinen bzw. Schreien positiv oder negativ? Ist das Baby besonders geräusch- oder lichtempfindlich?
Körperliche Auffälligkeiten können insbesondere die Grundregulation betreffen, wie Hunger, Verdauung und Wärmehaushalt. Gibt es Auffälligkeiten beim Trinkverhalten? Hat das Baby vielleicht einen grünen oder harten Stuhl oder sonstige Probleme mit der Verdauung? Schwitzt es ungewöhnlich viel oder nur an bestimmten Stellen oder ist es im Gegenteil ungewöhnlich kälteempfindlich? Gibt es Hautauffälligkeiten? Bestehen trotz therapeutischer Maßnahmen weiterhin Verspannungen oder auffällige Körperhaltungen und Empfindlichkeiten?
Für die Wahl der passenden homöopathischen Arznei werden alle Informationen zusammengetragen und ausgewertet. Es ist jedoch immer als ein sich behutsames Herantasten anzusehen. Manchmal müssen auch mehrere Mittel hintereinander gegeben werden.
Ich habe in meiner Praxis sehr positive Erfahrungen mit der Behandlung von Schreibabys gemacht. Besonders wichtig ist auch, den Eltern von Schreibabys mit viel Verständnis zu begegnen, denn sie tragen keine Schuld und haben nichts falsch oder anders gemacht als andere Eltern. Sie befinden sich in einer körperlich und mental sehr herausfordernden Situation und haben Respekt und Unterstützung verdient. Oft ist es auch schon sehr hilfreich sich bewusst zu machen, dass Weinen genauso ein Bedürfnis ist und auch nicht sofort aufhören muss, denn nur so kann das Baby von seinem Kummer oder Stress in seiner Sprache "erzählen" und die Eltern hören ihm einfach zu und sind für ihr Baby da. Denn ein Baby, das weint, um ein Trauma oder Stress zu verarbeiten, braucht vor allem eine Bezugsperson, die Geborgenheit und Ruhe ausstrahlt und so die teils heftigen Gefühlsausbrüche ihres Babys sicher begleiten kann. Um wirklich Trost zu finden braucht es also vor allem Nähe und menschliche Resonanz, jedoch keine Ablenkung in Form von Stillen, Schaukeln, Singen, Herumlaufen oder ähnliches. Dies ist leider ein weit verbreitetes Missverständnis, das an die betroffenen Eltern heran getragen wird. Es führt jedoch eher zu Aktionismus und Erschöpfung der Eltern und kann so in einen Teufelskreislauf aus Stress und Verunsicherung münden. Mir ist es daher ein wichtiges Anliegen den Eltern ihr Vertrauen in ihre elterliche Kompetenz wieder zurück zu geben und so Gefühlen von Ohnmacht und Angst zu versagen entgegen zu wirken.
zum Nachlesen:
(1): KiSS-Syndrom: Abk. für Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung. Die Existenz eines KiSS-Syndroms ist in der evidenzbasierten Medizin und Diagnose bislang nicht bewiesen und wird daher nicht von allen Ärzten anerkannt.